Die Schlagworte „Umbruch“, „struktureller Wandel“ und „Zeitenwende“ sind angesichts der Digitalisierung in aller Munde. Doch bei allem Drang, die Zukunft bestmöglich gestalten zu wollen, bleibt sie doch eine unbekannte Größe. Und manche versetzt sie gar in Sorge und Angst.
Wer wünscht sich da nicht, in die Kristallkugel blicken zu können? Und eindeutige Antworten auf folgende Fragen zu erhalten: Wie entwickelt sich die digitale Gesellschaft weiter? Welche Rolle wird dabei die Verwaltungsdigitalisierung spielen? Wie werden Bürgerinnen und Bürger in Zukunft mit Staat und Verwaltung interagieren bzw. kommunizieren? Wir haben jemanden gefragt, dessen Beruf es ist, in unbekannte Weiten vorzustoßen und mit langem Atem an komplexen Projekten und Missionen zu arbeiten: den renommierten Wissenschaftsastronauten und Hochschuldozenten Prof. Dr. Ulrich Walter.
Professor Walter, lassen sich Zukunftsentwicklungen überhaupt verlässlich vorhersehen und nutzen? Was können wir von der Raumfahrt lernen?
Die Raumfahrt ist die Speerspitze der Technologie, deswegen hält man dort immer schön die Augen offen. Sicherheit und Zuverlässigkeit stehen ganz vorne an. Technische Neuerungen werden deshalb nur dann eingesetzt, wenn sie ausgereift sind. Dann heißt es aber auch: Viel Geld in die Hand nehmen und alles konsequent durchziehen! Die Amerikaner nennen das „Do it right the first time!“
Eine Weltraummission planen und die Digitalisierung der deutschen Verwaltung vorantreiben: Welche Gemeinsamkeiten sehen Sie?
Bei der NASA waren die Prozesse schon in den 90er-Jahren zum Großteil digitalisiert. Hier gab es immer schon eine hohe Affinität zu Neuem. Das Entscheidende ist, dass der Erfolg einer Umsetzung weniger von der neuen eingesetzten Technik abhängt als vielmehr von den Umsetzungsprozessen! Konkretes Beispiel: Wenn ein Prozess nicht durchgehend digital ist, sondern vom Papierausdrucken unterbrochen wird, hakt es schon. Die Herausforderung bei der Digitalisierung von Verwaltungsprozessen ist: Man muss sich von den bisher gelebten, gewohnten Prozessen lösen. Das fällt Menschen manchmal schwer.
Weltraummissionen, ob bemannt oder unbemannt, bedürfen einer jahrelangen, oft jahrzehntelangen Vorbereitung. In der modernen Softwareentwicklung ist dagegen Agilität die neue Königsdisziplin. Welchen Ansatz sollte man bei der Mission „Verwaltungsdigitalisierung“ wählen?
Der beste Ansatz ist immer der, erfahrene Projektmanager zu haben. Jedes zu entwickelnde Produkt braucht seine spezifischen Prozesse. Eine Rakete ist anders zu entwickeln als ein Auto, deswegen ist die Erfahrung wichtiger als die Frage, ob ich agile Prozesse oder eher statische Wasserfallprozesse (Anm. d. Redaktion: aufeinander folgende Projektphasen), wie sie die NASA einsetzt, favorisiere. Die Erfahrung lehrt: Selbst zertifizierte Projektmanager setzen ihre ersten beiden Projekte in den Sand. Und erst das dritte ist erfolgreich. Daran sieht man, wie viel Erfahrung wert ist!
Standen Sie schon selbst mal vor einer Herausforderung, die Sie gezwungen hat, Ihre gewohnten Bahnen zu verlassen – auf die Gefahr hin, zu scheitern?
Ja, schon mehrmals! Nach meiner D-2-Mission 1993 stand ich vor der Entscheidung, entweder weiter in der Raumfahrt zu bleiben, in der Wissenschaft tätig zu werden oder etwas völlig Neues zu machen. Obwohl ich bis dato niemals mit Softwareentwicklung zu tun hatte, habe ich mit meinem Projektmanagementwissen von der NASA den Einstieg bei IBM gewagt. Das war nicht einfach, aber ich habe sehr viel gelernt.
Mein konkreter Tipp: Immer wieder Neues ausprobieren!
Sind Zukunftsangst und die Skepsis vor Neuem ein typisch deutsches Phänomen?
Ich würde sagen ja, die Deutschen haben tendenziell Angst vor der Zukunft, vor dem Neuen. Die Alte Welt, also Europa, ist doch eher mit ihrer Vergangenheit verbunden. Amerikaner, aber auch Inder und Chinesen leben für die Zukunft, das macht einen großen Unterschied. In Deutschland gibt es oft einen nicht ausgesprochenen Widerstand gegen Neues. Nicht jede Neuerung ist gut, aber es gehört für Amerikaner auch zum Zukunftsprozess dazu, dass man über die zehn Prozent, die nicht so gut funktionieren, ein Ei schlagen kann, ohne gleich in Pessimismus und Zweifel zu verfallen. Ungeachtet dessen sind deutsche Ingenieure sehr gut und in vielen Bereichen ganz vorne mit dabei.
Was würden Sie Menschen raten, die sich vor Disruption fürchten? Wie können sie sich bestmöglich auf das Morgen vorbereiten?
Dazu werde ich näher in meinem Vortrag Zukunft X.0 auf dem AKDB Kommunalforum eingehen. Ängstlich sein ist eine sehr tiefgehende, emotionale und oft unlogische Verhaltensweise dem Unbekannten gegenüber. Sie abzulegen fällt nicht gerade leicht. Sich auch im Alter die Offenheit gegenüber Veränderungen zu bewahren, ist dennoch ein Schlüssel, diffuse Ängste zu überwinden. Übrigens hat sich bei IBM gezeigt, dass in Entwicklungsprojekten für neue Produkte gerade die Kombination aus jungen, technikbegeisterten Menschen und erfahrenen alten Hasen einfach perfekt ist! Die Jungen machen sich sofort mit Begeisterung und Kreativität an die Umsetzung, verlieren sich aber auch gern in Details, während die Älteren viel stärker die Anforderungen und den konkreten Kundennutzen eines Produkts im Blick haben.
Jenseits der 50 noch Arbeitsweisen und Gewohnheiten im Job infrage stellen und verändern – wie geht das (gut)?
Mein konkreter Tipp: Immer wieder Neues ausprobieren! Meinen Mitarbeitern sage ich: In 15 Prozent eurer Arbeitszeit könnt ihr ganz andere Dinge tun als das, für was ihr eigentlich bezahlt werdet. In dieser Zeit sollen neue Dinge ausgedacht und ausprobiert werden. Und so mache ich das auch im Privaten. Nicht jeden Tag dieselbe Strecke zur Arbeit fahren, immer mal wieder was Neues ausprobieren. Die Erfahrung zeigt, dass dieses neue Ausprobieren zum Lebens- und Erfahrungsprozess dazugehört und manchmal auch etwas ganz Neues hervorbringt. Die Neugier, also die Gier nach Neuem, ist die entscheidende Haltung und Frischzellenkur fürs Alter!
Ihre persönliche Botschaft an alle Verwaltungsmitarbeiter in ganz Deutschland?
Ganz einfach: Bleiben Sie neugierig!